Smartphone, BlackBerry, Google, Twitter, Facebook und Weblog bestimmen meinen Arbeitsalltag und mein Privatleben. Von einer temporären Abstinenz der digitalen Medien habe ich in diesem Sommer in meinem Weblog berichtet. Damals hat es sich allerdings nur um eine sehr überschaubare temporäre Abstinenz gehandelt.
Der Autor Alex Rühle ist diesbezüglich radikaler. Sechs Monate, also mehr als 24 Wochen oder mehr als 180 Tage, entsagt er dem kompletten digitalen Leben. Sowohl der BlackBerry wird ein halbes Jahr lang unter Verschluss gehalten als auch der Zugriff auf das Internt wird gekappt. Und zu allem Überfluss nicht nur beruflich, sondern auch privat. Von den Erfahrungen, Gefühlen und Erlebnissen in dieser Zeit berichtet Rühle in dem Buch “Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline“.
Schon in den ersten Tagen der Netzabstinenz wird dem Redakteur der Süddeutschen Zeitung deutlich, wie sehr das Internet und insbesondere Google unser analoges Leben bestimmt. Das Ermitteln der Adresse seines Verlage Klett-Cotta stellt Alex Rühle vor unerwartete Hürden. Eine Recherche via Google wäre binnen zehn Sekunden von Erfolg gekrönt gewesen. Mit drei Anrufen bei der – kostenpflichtigen – Auskunft dauerte es mehr als 70 Mal so lang, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist.
Aber es gibt auch die angenehmen Erfahrungen als Offliner. Das analoge Leben hält nach 15 Tagen den ersten Höhepunkt für den Autor bereit: ein handgeschriebener Brief findet sich in seinem Briefkasten. Das Schriftstück eines Gefängnisinsassen soll sich in der Folgezeit als der Beginn einer intensiven Korrespondenz herausstellen.
Es sind die kleinen, feinen Geschichten und Anekdoten, die das Buch aufpeppen. Berichte vom Pflanzen eines Haselnussbaumes, den ersten kalten Entzug während eines Mittelmeerurlaubs und weitere Suchterlebnisse, die mich im ersten Augenblick schmunzeln lassen, mich im zweiten Augenblick aber nachdenklich machen: bin ich etwa auch so? Denn ich habe mich in so vielen Beschreibungen des Autors wiedergefunden.
Sei es, wenn er gesteht, “ich hab den Blackberry meist in meiner Hemdtasche getragen, das heißt, der Vibrationsalarm ging mir direkt ins Herz.” Und: “Diese immergleiche Wichtigkeitsperformance aus Gerätzücken, Augen verdrehen … und lostippen”, die Rühle beschreibt, kommt mir nur zu bekannt vor. Es ist wie ein imaginärer Spiegel, der mir beim Lesen vorgehalten wird. Und der mich erschreckt. Denn auch ich bin süchtig nach meinem Crackberry und meinem Motorola Milestone.
Auf der Fahrt zu einer Tagung habe ich morgens um sieben Uhr mit dem Lesen des Buches begonnen. Die ersten 40 Seiten habe ich fast an einem Stück gelesen. Und gleichzeitig erste Selbstversuche durchgeführt. Kann ich dem Reiz widerstehen, auf meinem Motorola Milestone die Twitter-Updates und -Replies zu checken? Kann ich es schaffen, bei dem vibrierenden Signal einer neuen E-Mail nicht in den Posteingang zu hetzen? Ja, ich kann es. Und es ist mir nicht schwer gefallen.
Die tagebuchähnlichen Einträge werden in regelmäßigen Abständen mit Wissenswertem über “kalten Entzug” bei BlackBerry-Nutzern und anderem Input in Sachen Online-Nutzung und -sucht angereichert. Nach dem Lesen des ersten Kapitels, das ich dank eiserner Disziplin, die Hände von meinem Smartphone zu lassen, beinahe an einem Stück gelesen habe, musste ich unweigerlich an “Supersize me” denken. Der Film des US-Regisseurs Morgan Spurlock beschreibt die Wandlung eines Menschen, der sich über einen längeren Zeitraum ausschließlich von Fast Food ernährt.
Das zweite Kapitel behandelt den zweiten Offline-Monat und unter anderem die Ablenkung, die das Benutzen des Internets bei seinen Nutzern auslöst. Wer kennt es nicht, das PC-Prokrastinieren, wenn eigentlich dringend ein Auftrag erledigt werden muss, aber an jeder Ecke des Internets neue Ablenkungen warten: amazon.de, ebay, youtube und Konsorten.
Es sind die sprachlichen Finessen und Metaphern, die mich besonders an dem Buch begeistert haben. Sei es, dass Rühle von einer “menschlichen Mail” spricht, wenn er von seiner Kollegin berichtet, die ihn über das Tagesgeschehen in der Redaktion informiert. Oder wenn er über die “iPhoriker” lästert, die sich in den unzähligen Apps suhlen.
Der erste Rückfall der Online-Sucht kommt (erst) nach 89 Tagen. Durch einen dummen Zufall (der PC seiner Frau ist defekt und deshalb muss FireFox auf Rühles PC installiert werden), kommt der Autor in Versuchung. Seine Frau ist außer Haus und da passiert es: der Browser ist zu verführerisch und fortan wird hemmungslos gesurft – SpiegelOnline, Stefan Niggemeier, YouTube. Und auch YouPorn darf nicht fehlen. Der Autor fühlt sich schlecht und nicht willensstark. Aber das Experiment geht weiter.
Am 10. März sind 100 Tage “Ohne Netz“ geschafft. Axel Rühle konstatiert, dass seine Angst vor dem Offline sein unbegründet war. Er fühlt sich nicht einsamer als sonst, eher im Gegenteil. Auch seine Freunde bestätigen ihm, dass er “so ruhig und ausgeglichen” wirke (auch wenn Rühle sich mal gar nicht so selbst wahrnimmt).
Nach 182 Tagen im analogen Leben und 214 Seiten im Buch ist das Experiment des Alex Rühle beendet. Rühle lässt sich als Lehre aus dem Test den BlackBerry dauerhaft wegnehmen und ersetzt das Smartphone durch ein klassisches Mobiltelefon. Und verzichtet daheim auf einen Internetanschluss – wohlwissend, dass er den PC seiner Frau als Backup-Lösung verwenden kann… Allerdings nur einen Tag, denn anschließend werden bereits wieder FireFox und Safari installiert und das digitale Leben ist mit voller Wucht zurückgekehrt.
Am meisten hat mich in dem Buch ein Zitat vom Soziologen Hartmut Rosa beeindruckt und nachdenklich gemacht: “Wir sind so frei wie niemand vor uns. Und gleichzeitig total gegängelt durch den permanenten Effizienzdruck.”
Die Symbiose aus dem Tagebuch eines BlackBerry-Abhängigem und der Wissensvermittlung der Online-Nutzung und -sucht ergeben ein lesenswertes Buch, dessen 224 Seiten durchweg kurzweilig, amüsant und lehrreich sind.
Was nehme ich mit? Ich habe gelernt, dass es anfangs schwierig ist, ein kompletter Offliner zu sein. Aber es ist zu bewältigen.
Was mir gut gefallen hat an dem Buch: es ist kurzweilig zu lesen, sprachlich überdurchschnittlich verfasst und lehrreich auch über die Online- und Offline-Pfade hinaus.
Was mir gefehlt hat an dem Buch: der Fokus des analogen Offliners liegen überwiegend auf den beruflichen Folgen, weniger auf dem Privatem. Das ist schade, hätte dieser Aspekt den Horizont der Leserschaft noch merklich erweitert.
Wer das Buch lesen möchte, wird hier fündig. Wer weniger gern liest und lieber zuhören möchte, kann sich das Buch auch von Heikko Deutschmann komplett oder gekürzt vorlesen lassen.