Es ist Donnerstag Morgen am 22. Januar 2015 um viertel nach fünf. Das Thermometer zeigt Temperaturen um den Gefrierpunkt und ich warte mit kalten Händen auf die S-Bahn.
Meine Reise führt mich nach Ostwestfalen in die alte Heimat. In etwas mehr als vier Stunden werde ich bei meinen Eltern angekommen sein. Ich habe bewusst die Reise mit dem Zug gewählt und auf das Auto verzichtet. In der Bahn kann ich lesen, dösen, mich mit meinen Gedanken auseinandersetzen. Und insbesondere Letzteres habe ich in den vergangenen Wochen häufiger getan.
Der Gedanke, eine Woche vor der Herz-Operation meines Vaters zu ihm zu fahren, ist nach und nach in mir gereift. Den Ausschlag, es am Ende auch zu tun, ist wenige Tage vorher gefallen. Denn so oft wir auch telefonieren: ein Telefonat ersetzt keinen Besuch. Eine Berührung, ein Händedruck und ein in den Arm nehmen ist nicht zu vergleichen mit einer WhatsApp-Nachricht.
Es stand auch die Überlegung im Raum, am darauffolgenden Wochenende mit der Familie nach Ostwestfalen zu reisen. Doch ich hatte Angst vor diesem Treffen mit den Kindern. Denn es hätte mich bedrückt. In Gedanken habe ich die Situation durchgespielt und bin immer wieder zu der Auffassung gekommen, dass es wie ein Gefühl bei einem Abschied für immer gewesen wäre. Eine traurige, sentimentale Moll-Stimmung hätte die Tage begleitet und es hätte sicherlich nicht nur mich zerrissen.
Deshalb habe ich den Entschluss gefasst, allein zu fahren. Der Sohn fährt zu seinem Vater, um sich mit ihm von Auge zu Auge zu unterhalten. Um die Gelegenheit zu nutzen, mit meinem Vater über Hoffnungen und Befürchtungen zu sprechen, um einfach für ihn da zu sein. Anders als mein Bruder habe ich aufgrund der räumlichen Distanz leider nicht die Möglichkeit “mal eben” zu ihm zu gehen und zu plaudern.
Distanz trennt Menschen, aber das Herz kennt keine Distanz
Bei dem Gedanken, dass ich eine Woche vor der Operation allein ohne die Familie nach Ostwestfalen zu meinem Vater fahre, hat in mir eine Gänsehaut ausgelöst. Es war eine Mischung aus Freude über diese Idee und auch Sorge, weil ich ihn vielleicht das letzte Mal… Doch diesen Gedanken verwerfe ich schnell.
Je näher ich meinem Heimatort gekommen bin, umso nervöser bin ich geworden. Wie werden sie wohl sein, die nächsten knapp fünfeinhalb Stunden mit meinen Eltern? Es gibt ja immer Erwartungen, die mit einem Besuch verbunden sind. Bislang waren es immer schöne Anlässe, die mich nach Ostwestfalen geführt haben.
Feiertage wie Weihnachten und Ostern, Geburtstage der Familienmitglieder oder Feste. Oder auch das Bringen der Kinder zu ihren Großeltern in den Sommerferien sowie die jährliche Männertour der Kids mit mir im Herbst.
Das ist dieses Mal anders. Dieses Mal ist ein Besuch bei meinem Dad, der in sieben Tagen am Herzen operiert wird und dessen Operation alles andere als ein Spaziergang für ihn und seine Angehörigen ist.
Ich habe mir vor dem Besuch ausgemalt, dass ich mit meinem Vater über ihn sprechen kann, was ihn bewegt, was ihm Angst macht und überhaupt wie es ihm geht. Ich möchte mehr zuhören als selbst sprechen, die Emotionen aufsaugen, bei ihm sein und ihm das Gefühl geben, dass er auf mich zählen kann. Ich möchte mit meiner Mutter sprechen und auch ihr helfen durch meine Anwesenheit, möchte Kraft und Zuversicht meinen beiden Eltern spenden.
Und so war es dann auch. Ich hatte Zeit, in Ruhe mit meinem Vater zu sprechen und er hatte die Gelegenheit, mir die Dinge mitzuteilen, die ihm wichtig sind. Ich habe gespürt, dass es richtig gewesen ist, acht Stunden Zugfahrt für weniger als fünfeinhalb Stunden Beisammensein aufzuwenden.
Es war richtig und wichtig. Und es hat gut getan. Uns allen gut getan.
Mein Vater und ich
Es ist eine ganz besondere Beziehung zwischen einem Vater und seinem Sohn. Sie ist selten von Herzlichkeit und Liebe geprägt, da Väter, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg geboren sind, nicht mit der Zuneigung aufgewachsen sind, wie beispielsweise meine Söhne das erleben.
Wenn ich über meine Beziehung zu meinem Vater als Kind nachdenke, fällt mir als erstes ein, dass er meinen jüngeren Bruder aus meiner kindlichen Sicht lieber gehabt hat (was natürlich nicht so gewesen ist). Mein Bruder ist meinem Dad sehr ähnlich, insbesondere auch wie er handwerklich sehr geschickt. Ich habe zwei linke Hände, während mein Bruder und Vater die Profis sind.
Doch je älter ich geworden bin, umso wichtiger ist mein Vater für mich geworden. Als Gesprächspartner, als Sparringspartner und als kluger Ratgeber. Mein Vater weiß viel, hat viel Lebenserfahrung und kann viele gute Ratschläge geben, ohne dabei belehrend zu wirken.
Und je älter ich geworden bin, umso inniger wurde unsere Beziehung, ohne dass es dazu vieler Worte bedurfte.
Abschied tut weh
Es ist Donnerstag Nachmittag, viertel nach drei. Ich stehe in Godelheim am Bahnhof und warte auf die NordWestBahn, die mich aus der alten Heimat Richtung neue Heimat bringen wird. Meine Hände frieren bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Als ich am eben um kurz nach drei von meinem Elternhaus Richtung Bahnhof aufbrechen musste, kämpfte ich gegen die Tränen an, als ich meinen Vater zum Abschied fest und lange umarmt habe. Zu gern hätte ich die Zeit angehalten und den Augenblick für immer konserviert.
Schon oft in den vergangenen Tagen habe ich diese Situation im Kopf durchgespielt. Und dann ist die Realität doch anders als das Vorgestellte. Es ist ein Abschied. Aber es ist kein Abschied für immer, da bin ich mir sicher.
Schon in der nächsten Woche sehen wir uns wieder. Und dann ist alles wieder gut.
Das Warten ist das Schlimmste
Doch bis dahin heißt es warten, warten, warten. Und das ist zermürbend. Immer wieder klammere ich mich an das Rationale und an die Fakten.
Ich sage mir, dass die Operation alternativlos ist und dass mein Dad bei den Spezialisten am besten aufgehoben ist.
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